Primat des Marketings

Güter werden entmaterialisiert, die Bedeutung des Sachkapitals schwindet.[1] Der Firmenwert misst sich in Kontakten zu Zielgruppen, Zugangsbeziehungen zu Interessenten, virtuellen Gütern wie gespeicherten Profilen, Verknüpfungen, Aktivitäten in Communitys oder belegten Speicherplätzen. Die unternehmerischen Aktivitäten zur Steigerung des Firmenwertes sind dem betrieblichen Bereich des Marketings zuzuordnen.

Web-Unternehmen ohne nennenswerte Umsätze werden nach ihren gesammelten Daten und der Größe ihres Netzwerkes mit hohen Milliardenbeträgen bewertet und tatsächlich gehandelt.[2] Nach der Erstellung der Applikation oder des Services ist die Sammlung der Teilnehmer eine reine Marketingfunktion. Die ersten Kosten der Produktion (Sunk-Costs) sind versunken. Die Downloads oder Zugangsgebühren sind für Grenzkosten nahezu Null. Im Web-Business wird dieses Phänomen bei virtuellen Gütern als First-Copy-Costs bezeichnet.[3] Das Gut entsteht beim Verkauf und steigert den Unternehmenswert.

Das Primat des Marketings leitet sich von der Entwicklung der westlichen Industriegesellschaft hin zu der postindustriellen Ökonomie ab. In diesem Umfeld dominieren Käufermärkte.[4] Die strategische Kernfrage nach dem Absatz der Güter wird von der Überflussgesellschaft hervorgerufen. Im weitgefassten Konzept geht Marketing über die absatzpolitischen Ziele hinaus in den Bereich der Kommunikation in Gesellschaften, selbst ohne ein konkretes ökonomisches Ziel.[5] Diese Definition wird dem Web als Träger von Informationen gerecht, denn als erstes interaktives Massenmedium ermöglicht es die Erfassung und den Austausch von Informationen in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das Web reflektiert diesen interdisziplinären Ansatz, der über die betriebliche Absatzunterstützung hinausgeht und neue Güter aus den privaten Bereichen der Gesellschaft in das Business zieht. Die postindustrielle Ökonomie vermarktet das Privatleben und Teile der etablierten Dienstleistungen aus dem dritten Sektor.

Produktion, Vertrieb, Logistik, Einkauf oder Verwaltung spielen mit Blick auf die Leistungserstellung eine untergeordnete Rolle. Im Marketing werden neue Bedürfnisse gefunden oder erzeugt. Das Branding des Unternehmens oder seiner Marken macht den wesentlichen Erfolgsbeitrag aus. Im Informationsmeer sollen Angebot und Corporate Identity Interessenten wie ein Leuchtturm anziehen.

Die Gewinnung der Interessenten wird deshalb als Pull-Marketing bezeichnet, weil es auf deren Aufmerksamkeit abzielt. Sie wird durch die Netzeffekte unterstützt. Hier liegt der Fokus auf den Verbindungen der Teilnehmer und den Interaktionen liegt.

Das Bestands-Marketing lässt sich einfach und kostengünstig über die Kommunikationskanäle des Internets ergänzen.

Die Teilnehmer werden nach ihren Profilen segmentiert und sind sofort durch das Web-Marketing greifbar. Die Verbundeffekte vervielfachen in der Zusammenarbeit zwischen den Plattformen den Kreis der Interessenten. Wegen der technisch leichten Verknüpfung der Datenbanken und Webpräsenzen über Hyperlinks lässt sich das Marketing über Unternehmensgrenzen hinweg ausdehnen. Die Community ist nicht mehr auf die eigene registrierte Teilnehmergruppe oder die eigenen Rechner begrenzt. Mit einer guten Idee und einem neuen virtuellen Gut lässt sich das Marketing über weitere Kooperationspartner auf andere Communitys oder Kundenkreise erweitern. In diesem Sinne ist das Marketing, das sich über die etablierten Strukturen und Grenzen hinaus entwickelt, als virtuell zu bezeichnen.

 

[1] Vgl. Rifkin 2007: S. 154

[2] Facebook, Amazon, Twitter, Skype stehen in der langen Liste der Web-Unternehmen ohne nennenswerten Ertrag aber mit hohem Firmenwert ganz vorne an.

[3] Zerdick, et. al. 2001: S. 165 f.

[4] Vgl. Wöhe 2000:  S. 481

[5] Vgl. Wöhe 2000: S. 482